Gespräch

mit dem November[1]

 

1.

 

November,

Monat der Meditationen,

die Gedanken fallen

wie das Laub von den Bäumen,

wir verbleiben nicht alleine

mit den entrindeten Sprossen im Wind,

der Wind dringt bis in die Knochen,

wegen der geschwängerten Luft

stirbt etwas und es wird wiedergeboren

in den Poren des Liedes

in den Poren der Tränen…

 

2.

 

Du Monat des Schmerzes

erwachst mit ihnen,

wie der Wind das dürre Laub,

sammelst du die Wolken um dich herum

und rennst, um das letzte Loch

im Horizont zu verschließen,

einen herbstlichen Walzer tanzend

nimmst du die gefallenen der Bäumen Blätter auf,

bewegst die entrindeten Schösslinge,

schaukelst sie im Raum hin und her

zu traurigen Wiegenliedern.

 

3.

 

Wenn der Wind durchdringend weht

erschütterst du die Fenster der Herzen

aus Verzweiflung,

weil der Verrat sich dort,

wo die Sonne aufgeht,

unbemerkt zu einem Berg anhäuft,

 

und sie lassen dich noch immer nicht hinaus

sie lassen dich nicht leuchten

 

sie lassen dich nicht die Jahreszeiten wechseln

die Zeit in unseren Seelen erneuern,

so sehr es dein brennendes Herz  auch will…

 

4.

 

Schaut, jenseits des Nebelmeeres

die Kyrenaiker,

deren Geduld am Ende ist,

wie sie die Erde zum Beben aufrufen,

 

die Erde soll beben -

die Magmen glühen auf,

um den Mund der Erde zu öffnen,

um das Gedankenlava

gerechtfertigt

in Richtung Sonne zu kotzen,

 

werden es wohl die Wolken

in den feurigen Jahreszeiten aushalten können,

oder werden sie vor dem Schrecken,

der sie durchfährt, platzen?!...

 

5.

 

Manchmal bis du, November,

das Vorwort zum Winter,

 

die ersten Zeilen der Wolken

sind nur lärmige Reklamen

für den Schnee, der kommen wird...

 

wir spüren den kommenden Eiskönig

den gewaltigen König

der mit seinem Spazierstock

hysterisch an die Tore der Tage hämmert,

den Morgen aus dem Schlaf reißt,

wir spüren

wie das krankhafte Niesen

 

in den geschwollenen Adern faucht,

den entzündeten Adern der Tage.

 

6.

 

Die letzten Zeilen werden nicht warten

auf den Sturm des Hauches der Menschen,

 

es wird das Eis schmelzen

in der Seele der Dinge.

 

Werden die Wolken

den Schwingungen des Aprils standhalten?

 

Der Mai, der rote Mai,

fern wird er sein, wir wissen es,

fern wie ein Traum könnte er sein

 

doch trotzdem strahlt er uns

mit seinem blühenden Lächeln an.

 

7.

 

Jetzt, Silo des Kummers,

ergießt sich deine bittere Lymphe

auf den Boden und ins gegraute Gras.

 

Die Zweige reißen die Haut

vor deiner Peitsche auf,

sie weinen dem verlorenen Grün nach

und richten ihre enthäuteten Finger

direkt auf den schwarz gewordenen Kelch...

 

8.

 

Wir haben erwartet,

dass du uns deine Körbe

gefüllt mit den Früchten unserer Mühen bringst,

November.

 

Dieses Glückskorn,

das wir getrocknet haben,

von allen Gesängen –

 

wir haben erwartet,

dass es goldbraun  auf der Hand liegt

wie ein gebackenes Brot,

und dass es so schmackhaft ist

wie ein Apfel,

 

für dieses

wurden unserer Schatten geschält.

 

9.

 

Wie unbarmherzig

sind deine Wolken

wenn sie an den Zweigen hängen,

 

die Hände des Glücks haben nicht alles gesammelt,

was sie sammeln könnten,

 

deshalb

tröpfelt aus den gebrochenen Schösslingen

                                                      der Zweige

ohne Unterlass

nur die Lymphe des Schmerzes,

November!

 

10.

 

Wer zieht uns

die Leitern vor der Geburt weg,

sodass wir tief unten verbleiben,

wiederholend die verfluchte Sisyphusarbeit

mit der verletzten Sonne auf dem Rücken,

 

dort unten, wo die Spinnen

die Hypokrisie hervorbringen,

während sie mit den Händen

                                   den Winterschal weben,

 

sie stricken

ein Band aus dem Geheul

im Herzen der Erde!

 

11.

 

O diese verfluchten Spinnen,

wie gross sind sie geworden,

und ganz frei krabbeln sie

den Bluttropfen nach.

 

Die Erde bebt, November,

die Spinnen verwandeln sich in Nashörner

in Fleischfresser,

sie zehren unersättlich am Überfluss der Geduld,

 

wo immer sie können

kotzen  sie Apokalypsen –

den Eiter der Löcher,

                          welche die Sonne nie erreichte.

 

12.

 

Dein Beben muss jene schütteln,

die sterben,

damit die Poren des Seins

                              wiederbelebt werden können.

 

Es muss der Tag kommen,

an dem du deine Adern anschwellen lässt

und die Flussbetten nicht beachtest,

 

wenn die Orkane toben,

wenn deine Stürme

den schmutzigen Umhang der Zeit zerreissen

und wenn alle verlogenen

Idole fallen,

 

denn du, November, bist

das Ende eines Segments,

durch welches sich die Zeit streckt und misst!  

 

13.

 

Hunderte Male warst du bei uns,

doch außer der Verzweiflung ernteten wir nichts,

deine dürren Blätter

zählten wir deshalb.

 

Wir waren diese Sprossen,

die dich seit jeher am Stamm der Jahrhunderte

                                                     erwarteten,

immer mit gebrochenen Ästen, 

 

mit abgerissenen Spätzchen

und schrundiger Haut,

 

Sprossen, die entkleidet wurden,

und im Frühling grünten-

 

welchen die Lymphe

wie Tränen über die Wangen der Tage flossen!

 

14.

 

Wie können wir die Blätter

wie eine Decke über die Erde werfen,

bevor der Frost hereinbricht,

bevor der Schneesturm

die Wurzeln des Grases erfrieren lässt.

 

Fanatisch bewahrten wir den grünen Traum

unter der gerissenen Haut,

wir kauten die ganze Zeit

die Flüche der Dornenbüsche,

welche mit ihren Krallen

das All erschuf.

 

15.

 

Und durch deine Wogen

wurden viele Herzenspflanzen

zu Boden geknickt,

November.

 

Sie fielen im Luftwirbel

und ewig wird man ihrer gedenken.

 

Sie zeigten uns allen,

wie sich die Zeit in der Seele der Dinge verhält-

 

Das einzige Beispiel der Schönheit

waren sie,

das Wunder,

das nur einen Augenblick währt.

 

16.

 

Wenn du kamst,

streichelten die Eichen meiner Liebe

die Treppen

mit ihren Händen knackender Zweige

 

jedes Mal, wenn die Beile

eine grüne Quelle am Stamm vertrocknete,

 

diese wilden Beile,

geschärft in den Ecken,

                    wo die Kohle den Russ abgibt

und die mit Teer getränkten Lungen,

angelehnt an die gebrochenen Zweige,

an jene, welche

die stolzen Eichen von sich wegwerfen

und nicht anerkennen!

 

17.

 

Das erste Mal

kamst du über das blanke Schwert

der roten Strahlen,

 

es war ein feuriger Regenbogen,

der die Herzen verband

und der aus dem Himmel der Lieder

alle Wolken sammelten,

und sie versengte,

 

durch Farben hindurch

die Horizonte siebte

und die weißen Räume erneuerte.

 

Hinunter zur Erde brachte er dann

den Glanz der Herrlichkeiten,

und mit ihm vermass er die Grundstücke.

 

18.

 

Streckte seine Lichtstrahlen

von einem Hügel zum anderen

und verband

die Garben der Ernte 

mit dem Faden des Verstehens

und dem Vorbild,

welches sich nicht oft wiederholt.

 

Wir

begannen die Zahlen mit jener Jahreszeit,

und die Kinder

zogen wir mit dessen Namen auf.

 

19.

 

Danach haben wir uns oftmals

durch die Risse der Felsen

gedrückt,

einsam,

verstreut,

 

wir wälzten uns im Sand

bis die Tage wegen der Schrecklichkeit platzten,

 

wir erwarteten die Donnerschläge

der noch verbliebenen Lebensjahre,

dass sie unerwartet einschlügen,

um den Boden

unter den Eichen zu erschüttern,

 

sodass gesiebt würde ein Großteil

der Lymphe durch die Hoffnungszweige!

 

20.

 

Das zweite Mal kamst du hastig an

uns fehlte die Zeit

um alle Fetzen des Lebens einzusammeln-

 

eilend mussten wir

die Hütte der Zukunft erbauen

 

um sogleich Platz

für die Sofra[2]

der Liebe zu haben

und für eine Wiege

für unsere Wiedergeburt,

wir mussten uns erholen

bevor die Winter, welche die Stirn

der Tageskarawane drückten, ankamen…

denn “durch die Türen

 

der grossen Tragödien

teilte sich das Glück der kleinen Völker”.

 

21.

 

Andere Male kamst du

mit zwei Gesichtern,

die sich wie der Tag von der Nacht

                                              unterschieden,

deshalb haben wir einen Grund

um uns in jeder Jahreszeit

weiter zu bemühen

 

um uns als ein einziger Laib Brot

zu backen! 

 

Und wenn wir dich würdig hervorbringen

mit dem goldenen Strahlenkranz

wirst du der dritte November sein,

 

dann werden wir nie mehr

mit den schrecklichen Abenteuern

der Gedichte

über die Gebirgen fliehen..!

 

22.

 

In dieser Zeit

spielen die Karnevale überall

und sie versuchen die Luft

in ein glückliches Gemälde zu färben,

deshalb wanderte ich, um die Welt zu sehen.

 

Dein unechtes Bild

verwirrt mich, November,

wegen der gefälschten Unterschriften,

 

wie kann ich dein Lachen erklären

wenn du eigentlich weinen solltest

 

und dein Weinen, wenn du lachen solltest

dein Aufschreien, wenn du geduldig sein solltest

und die Trägheit

in den Augenblicken

                   der unabdingbaren Bewegung.

 

Viele Farben hast du

ungeordnet in die Welt gesetzt, 

unschön,

Farben im Einklang mit den Karnevalen!

 

23.

 

Deine herbstlichen Trommeln

bringen meine Tränenquellen

unter den schlaflosen Augenlider

zum Fließen,

während ich über den ungewöhnlichen Karneval

jenseits den Bergen nachdenke.

 

Keinesfalls kann im Herzen

Ordnung geschaffen werden,

zerbrochene Fenster

vom Versuch, die Liebe durch das Gitter

einer unerträglichen Schale zu befreien!

 

24.

 

Zu steigen

auf die Berge der Gedanken,

um die Welt von oben zu betrachten-

 

dies gleicht

einer fürchterlichen Verwirrung:

 

neben dem Brot – Hunger,

neben dem Frieden – Gewalt,

neben dem Schmerz – Gesang,

neben dem Gesang die Tragödie,…

 

doch sprechen wir nicht mehr

mit dem verbotenen Wortschatz,

es könnten die Kuckucke

in unser Knochenmark eindringen,

und wer weiß, ob uns dann jemand

die Hand der Gnade hinstreckt-

der Schmerz

ist sowieso das Monopol des gemeinen Volkes

dem niemand die Hand bietet! 

 

25.

 

So, November-

du solltest das Resümee ziehen

aus allen geschriebenen Seiten

des Lebens, das geboren wird

in den Seelen der Dinge,

und ein unantastbarer

November werden.

 

der Wind soll

die Wellen der Seelen mitnehmen,

er soll damit ein Feuer des Gesanges machen,

einen Kranz frischer Atmungen..!

 

Nur so kannst du

unser dritter Jahrestag sein-

 

Unsterblicher November!

(Zürich, 1989-1991)

 

 

 



[1]           Die Geschichte der Albaner ist sehr eng mit dem November verbunden. Geschichtlich ist der 28. November 1444, als der albanische Nationalheld Skanderbeg aus dem Ottomanischen Reich in seine Heimat Kruja (Stadt in der Nähe von Tirana) zurückkehrte, um dann gegen die Ottomanen, die sein Land erobert hatten, zu kämpfen, bei den Albanern als “der Erste November” bekannt. Und der 28. November 1912, als in der Stadt Vlora die Unabhängigkeit Albaniens erklärt wurde, ist als “der Zweite November” bekannt. Die Hälfte der Territorien, des um 1912 als unabhängig erklärten Albaniens wurden von verschiedenen Balkanländern erobert, und die Albaner warten auf “den Dritten November”, in der Hoffnung auf die Wiedervereinigung Albaniens.

[2]           Runder, niedriger, traditioneller Esstisch der Götter und Albaner